Einführung in die Welt der Ameisengäste
Das Erfolgsrezept der Käfer
Die Käfer (Coleoptera) sind weltweit - gemessen an der Artenzahl - die erfolgreichste Tiergruppe. Im klimatisch weniger günstigen Deutschland stellen sie mit rund 6500 Arten nach Fliegen (Diptera) und Wespen (Hymenoptera) die drittstärkste Insektenordnung. Ihr Erfolgsrezept ist der Bau der Flügel, der sowohl Ausbreitungsflüge als auch das "Landleben" unterstützt: Die chitinisierten Deckflügel schützen das hintere Flügelpaar, sodass die Käfer gefahrlos alle Lebensräume besiedeln können, vor allem Lückensysteme, in denen Zwei- und Hautflügler nur bedingt zurechtkommen. So wundert es nicht, dass Käfer auch den Lebensraum "Ameisennest" besiedeln.
Ameisenliebe
Die Beziehung zwischen Käfern und Ameisen sind schon lange ein beliebtes und spannendes Forschungsgebiet der Entomologen. Schon im 19. Jahrhundert haben sich viele Forscher mit diesem Thema befasst, von denen Erich WASMANN die Ameisennestbewohner in verschiedene Typen der Myrmecophilie unterteilte: Diese Typen sind Trophobiose (z.B. Läuse als Nahrungsquelle), Symphilie (echtes Gastverhältnis), Synoekie (indifferentes Zusammenleben) und Synchethrie (echtes Feindschaftsverhältnis). Der erste Typ, Käfer als notwendige Nahrungslieferanten, findet sich in Mitteleuropa unter den Käfern nicht.
Welche Ameisennester werden besiedelt?
Ameisennester können relativ stabile Lebensräume mit einem speziellen Mikroklima darstellen. Je eher diese Bedingungen erfüllt werden, desto wahrscheinlicher haben sich im Laufe der Evolution Käfer - oder Ameisengäste allgemein - hieran angepasst. Nester bieten für Käfer, die sich vor Ameisen schützen oder gegen sie verteidigen können, ein reichhaltiges Nahrungsangebot sowie Schutz gegen andere Feinde und Nahrungskonkurrenten. Sie ernähren sich von verrottenden Pflanzenmaterial und Schimmelpilzen, tierischen Abfällen oder räuberisch von verschiedensten Kleintieren. Besonders groß mit stabilen Mileaubedingungen sind die Nesthügel verschiedener Formica-Arten und Nester verschiedener Lasius-Arten im morschen Holz lebender und toter Bäume.
Von Käfern werden große Ameisennester bevorzugt.
Quedius brevis lebt in Formica-Nesthügeln,
seine nächsten Verwandten in hohlen Bäumen und Säugerbauten.
Wie findet man Ameisenkäfer?
Die klassische Technik des Koleopterologen (Käferkundler) arbeitet mit dem entomologischen Sieb, wobei Nestmaterial oder Bodenstreu aus der Nestumgebung durch Gittersiebe mit verschiedener Maschenweite gerüttelt wird - möglichst so, dass die Ameisen nicht hindurch gehen und später lästig werden können. Denn das Substrat nimmt man mit heim, um dann bei Wärme und günstigem Licht die Käfer herauszusuchen. Aber auch mit bloßem Auge kann man gezielt fündig werden - immer dann, wenn Ameisen Nester unter großen Steinen anlegen. Mit Fallen werden Ameisengäste bei faunistischen Bestandserfassungen nur zufällig, aber insbesondere auf Trocken- und Halbtrockenrasen öfter in größerer Zahl dokumentiert.
Der Palpenkäfer Chennium bituberculatum
lebt unter Steinen bei Tetramorium caespitum
und ist in vielen Regionen Deutschlands verschollen.
Was kann der "Myrmekomane" beisteuern?
Der Vorteil des Ameisenkundlers ist seine Kenntnis der Ameisenarten und ihrer Lebensweise, die eine gezielte Suche nach Wissenslücken ermöglicht. Aber auch zufällige Beobachtung können Unbekanntes zu Tage fördern. So sind von vielen Käferarten die Larven und ihr Verhalten unbekannt. Bei Käfern, die bei selteneren Ameisenarten leben, bestehen noch viele faunistische Defizite. Käferarten können aus Bundesländern noch unbekannt sein und auch Neufunde für Deutschland sind noch möglich. So wurde erst kürzlich der Kurzflügler Coprocorus colchicus erstmals in Baden gefunden. Zu erwarten sind noch der Federflügler Astatopteryx splendens bei Camponotus pubescens oder der Kurzflügler Thiasophila bercionis bei Formica pubescens...
Der Ameisenkäfer Stenichnus foveola
gehört zu den seltensten Käferarten Deutschlands.
Es wurden bislang erst drei Einzeltiere an
von Lasius besiedelten Uralteichen gefunden.
Der Nestkäfer (Catopidae) Anemadus strigosus
lebt im morschen Holz bei Lasius brunneus
und gilt gleichfalls als große Rarität.
Die Ameisenkühe
Die echten Ameisengäste - der Symphilie-Typ - wird bei uns nur durch die Keulenkäfer, die bei Lasius-Arten leben, vertreten. Die Gattung Claviger gehört heute zur Familie der Kurzflügler (Staphylinidae), früher zu den Palpenkäfern (Pselaphidae). Die Keulenkäfer sind augenlos, haben verkürzte Fühler und sind fast laufunfähig. Sie stellen die höchste Entwicklungsstufe der Myrmecophilie bei den Käfern dar. Sie sind sozusagen Haustiere der Ameisen, die außerhalb der Nester nicht mehr lebensfähig sind. Sie sind blind und werden von den Ameisen gefüttert, machen sich aber auch über die Larven ihrer Wirte her. Im Inneren des Körpers gelegene Drüsen liefern ein von den Ameisen begehrtes Sekret (Exsudat), das über Ausfuhrgänge, deren Öffnungen von gelben Haarbüscheln in den Vorderecken des ersten freiliegenden Hinterleibsringes bedeckt werden, ausgeschieden wird. Bevorzugt bei Lasius flavus lebt Claviger testaceus und bei Lasius umbratus die Schwesterart Claviger longicornis. Oft finden sich nur wenige dieser "Ameisenkühe" in den Nestern, in der Literatur wird aber auch berichtet, dass schon Staaten an den Besäufnissen mit dem Käferschnaps zu Grunde gegangen sind. Beide Arten sind flugunfähig und kommen heute vielfach nur noch reliktartig vor, da sie darauf angewiesen sind, von Ameisen beim Umzug mitgeschleppt zu werden.
Die Ameisenkiller
Das andere Extrem sind Käferarten, die Ameisen jagen und fressen (Synchethrie). Bei den Kurzflüglern gibt es einen vergleichsweise artenarmen Tribus, die Zyrasini, deren Arten an spezielle Ameisenarten gebunden sind. Es gibt in der Gattung Lomechusa sogar Arten, bei denen Larven und Imagines bei unterschiedlichen Wirten leben (Myrmica und Formica). Am häufigsten und bekanntesten sind die Arten der Gattung Zyras, von denen oft mehrere Arten gemeinsam bei Lasius fuliginosus vorkommen. An ihren Straßen "lauern" die Käfer, die die Ameisen überfallen, ihnen den Kopf abbeißen, um sie anschließend zu verzehren.
Ein Ameisennest ist ein Komposthaufen
Ein Komposthaufen und ein Ameisennest haben vieles gemeinsam: Spezielles Mikroklima, Nahrung im Überfluss und ein Lückensystem. So verwundert es nicht, dass viele Ameisengäste nahe Verwandte besitzen, die Ansammlungen faulender Pflanzenstoffe besiedeln. Hier finden sich in Ameisennestern die sogenannten indifferenten Arten oder geduldeten Untermieter, der sogenannte Synökie-Typ. In diese Kategorie fällt die Mehrzahl aller Ameisengäste. Diese Käferarten haben unterschiedliche Strategien, aber auch morphologische Anpassungen entwickelt, die ihr Überleben im Ameisennest ermöglichen und die in den folgenden Beispielen vorgestellt werden sollen.
Arten aus Formica-Hügeln, die enge Verwandte besitzen, die faulende Pflanzenstoffe besiedeln:
Zwerge fallen nicht auf
Eine gute Möglichkeit als Untermieter nicht aufzufallen, ist sich ganz klein zu machen. Das machen die Massen von Milben, die in Ameisennestern als Müllabfuhr unterwegs sind, aber auch einige Käferarten im Größenbereich von 1 mm und weniger. Vertreter finden sich unter den Federflüglern (Ptiliidae) und den Ameisenkäfern (Scydmaenidae), deren Name allerdings nur auf ihren ameisenähnlichen Körperbau zurückgeht. In Formica-Nesthügeln leben beispielsweise der an Schimmelpilzen fressende Federflügler Ptenidium formicetorum und der Ameisenkäfer Euconnus pragensis, der gepanzerten Milben nachstellt.
Unsere kleinste Käferart, der Federflügler Nephanes titan - man beachte den Namen - ist übrigens 0,5 mm groß. In Skandinavien wurden kürzlich noch kleinere Käfer aus der Gattung Nanosella entdeckt, deren nächste Verwandte in Südamerika leben.
Am Panzer die Zähne ausbeißen
Viele Käferarten schützen sich durch einen besonders robusten Körperbau, der von Fressfeinden nicht zu knacken oder auch nicht zu verdauen ist - so wurden sogar schon überlebende Pillenkäfer im Krötenkot gefunden. Käferarten des sogenannten Trutztypus finden sich bei vielen Ameisen. Bei Formica-Arten gibt es sogar Spezies, die sich morphologisch an das
Leben bei den Ameisen angepasst haben. Während ihre nächsten Verwandten schwach gerippte Flügeldecken besitzen, haben die Nestbewohner eine völlig glatte Oberfläche. Eine Ameise, die einen
solchen Käfer mit den Mandibeln packen will, rutscht einfach am Käfer ab und greift ins Leere.
Räuberisch in Ameisennestern leben so zum Beispiel die Stutzkäfer (Familie Histeridae) Myrmetes paykulli und Dendrophilus pygmaeus. Aus der Familie der Schimmelkäfer (Cryptophagidae) findet sich bei Formica die Art Emphylus glaber. Eine weitere Technik der Verhaftung durch Ameisen zu entgehen, praktiziert der Glanzkäfer (Nitidulidae) Amphotis marginata: Breit und flach presst er sich an die Wände in den Kartonnestern der Lasius fuliginosus. Seine Biologie ist noch nicht gänzlich geklärt, es besteht aber Grund zur Vermutung, dass seine Larven sich in Pflanzengallen und nicht in Ameisennestern entwickeln.
Den Turbo einschalten und rumstinken
Eine weitere Methode, den Ameisen zu entgehen, ist einfach fixer zu sein. Mit besonderer Perfektion beherrschen dies die räuberischen Kurzflügler, deren verkürzte Flügeldecken und gestreckte Gestalt besonders wendige und schnelle Bewegungen zulassen. Die Arten sind darüberhinaus meist deutlich kleiner als die Wirtsameisen, so dass sie sich in Lücken und Spalten verkriechen können, in denen keine Ameise folgen kann. Als Beispiele seien hier die extrem seltene Euryusa sinuata, die bei Lasius brunneus lebt, und einige Bewohner von Formica-Nesthügeln abgebildet.
Auch diese Arten besitzen leichte morphologische Anpassungen, so Euryusa einen besonders breiten Halsschild, sodass der Käfer nicht an einer Einschnürung zwischen den Körpersegmenten gepackt werden kann und Nothotecta und Thiasophila dicht gedrängte Antennenglieder, so dass die Fühler nur schwer von Ameisen abgebissen werden können. Im Notfall beherrschen Kürzflügler aber auch die Abwehr mit chemischen Kampfstoffen. Kommt ein potentieller Angreifer zu nahe, wird der Hinterleib nach Skorpionsart nach vorne gebogen, so dass aus Abwehrdrüsen ätzende und stinkende Sekrete herausgespritzt werden können.
Was willst Du, ich bin auch eine Ameise!
Eine besonders interessante Gruppe sind die - so könnte man sie nennen - "sozial angepassten Milbenfresser". Gemeint sind die regelmäßig in Holznestern von Lasius brunneus vorkommenden Palpen- und Ameisenkäfer. Batrisus formicarius, Batrisodes-Arten und Scydmaenus perrisi konnten mehrere Monate in Gefangenschaft mit und ohne Ameisen in Nestsubstrat gehalten und beobachtet werden. Die Käfer zeigen keine auffälligen morphologischen Anpassungen an das Leben im Ameisennest, aber ein spezielles Verhalten. Bei Begegnung mit den etwa gleich großen Ameisen zeigten alle Käfer ein anderes Verhalten als gegenüber den Artgenossen. Sich bei Begegnungen berührende Käferkollegen bewegten sich weiter, während bei Fühlerberührung mit einer Ameise ruckhaft innegehalten wurde und erst nach Beendigung des Fühlerkontaktes das Weiterlaufen erfolgte. Die Fühler werden dabei nicht eingezogen, sondern der Ameise weiterhin "zum Kontakt angeboten". Die Ameise verhält sich dabei wie bei einer Begegnung mit einer anderen Arbeiterin. Menschlich ausgedrückt hieße das: Der Käfer passt sich dem Sozialverhalten der Ameisen an und wird von dieser nicht als Käfer erkannt, während dieser Ameisen als Ameisen und Artgenossen als Artgenossen erkennt und beide andere Käfer als andere Käfer erkennen, diese angreifen oder sich schützen.
Bei den im Ameisennest gehaltenen Exemplaren konnte beobachtet werden, dass sich die Palpenkäfer der Gattungen Batrisus und Batrisodes vornehmlich auf dem von den Ameisen angelegten Abfallhaufen aus toten Ameisen aufhielten, auf dem sich in sehr großer Zahl kleinste weiße, weichhäutige Milben fanden. Diese Milben bilden die Nahrung der Palpenkäfer. Die Ameisenkäfer stellen dagegen den gepanzerten Milben nach, Scydmaenus in diesem Fall der Schildkrötenmilbe Trichouropoda ovalis, die oft massenhaft in den Holznestern vorkommt. Von den Scydmaeniden weiß man, dass sie in ihrer Beuteerwerbstechnik speziell an bestimmte Milbentypen angepasst sind. Sie ergreifen die Milben, drehen sie auf den Rücken und schaben entweder Löcher in die Beutetiere oder schneiden nach dem Dosenöffnerprinzip (Scydmaenus) mit ihren Mandibeln auf der Körperunterseite der Milben besonders große Chitinteile an ihren Nahtstellen heraus.
Ist das alles - nur hässliche Entlein?
Wer im hohlen Baum lebt oder im finsteren Nesthügel, braucht sich nicht besonders zu schmücken. Formen müssen funktional sein, Farben spielen in der Dunkelheit keine Rolle. Für Käfer, die im Licht des Tages unterwegs sind, gelten oft andere Regeln, Tarn- oder Warnfarben sind angesagt. Die großen engerlingartigen Larven des gut gepanzerten Rosenkäfers Protaetia cuprea, dessen Verwandte sich in morschem Holz und Baumhöhlen entwickeln, leben in den feuchteren Randbereichen von Formica-Nesthügeln, wo sie sich von den verrottenden Holzteilen und Nadeln ernähren. Auf Sträuchern, deren Äste über Formica-Nesthügel ragen, sitzen manchmal nach Art der giftigen Marienkäfer gefärbte Blattkäfer aus der Gattung Clytra. Die Weibchen strecken den Hinterleib über das offene Ameisennest, halten ihre Eier mit den Hinterbeinen und hüllen sie drehend in ein schützendes Sekret, um sie anschließend auf das Nest fallen zu lassen. Die dort schlüpfenden Blattkäferlarven bauen sich eine Hülle aus eigenem Kot, der die ungepanzerten Körperteile tarnt und schützt. Diese Technik hat ihnen den auf den ersten Blick merkwürdigen Namen "Ameisensackkäfer" eingetragen.
© F. Köhler www.KOLEOPTEROLOGIE.de für http://www.AMEISENHALTUNG.de