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Einer musste den Job ja machen! In den bizarren Tätigkeiten vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte spiegelt sich der Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Autorin Michaela Vieser und die Illustratorin Irmela Schautz portraitieren ausgestorbene Berufe - wie etwa den Ameisler.
Ameisler: Person, meist männlich, die Ameisenpuppen sammelte, sie trocknete und als Vogelfutter oder Medizin verkaufte
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Aktive Zeit: in Mitteleuropa bis in die zwanziger Jahre, in Niederösterreich sogar bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts
Das Gewicht aller Menschen auf der Erde ist heute größer als das aller Ameisen. Bis vor Kurzem war es umgekehrt; da wogen die Ameisen mehr. Es wäre jetzt einfach, die Schuld auf die Ameisler zu schieben. Dieser etwas drollig klingende Name bezeichnete eine Berufsgruppe, die vor allem in Niederösterreich, aber auch in anderen mitteleuropäischen Regionen in den heimischen Wäldern Ameisenhaufen "erntete". Ameisler waren auf der Suche nach Ameisenpuppen, die als Vogelfutter angeboten wurden und mit denen sich guter Gewinn erzielen ließ.
Es ist wohl wahr, dass der Beruf des Ameislers spätestens in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts von den Forstbehörden verboten wurde, da er in die Ameisenbestände eingriff und das andere Gewicht, nämlich das ökologische Gleichgewicht, belastete. Aber die Aktivität des gemeinen Ameislers war nichts im Vergleich zur Bevölkerungsexplosion der Spezies Mensch, der er angehörte und die mit ihren geschätzten 6,9 Milliarden Bewohnern seit wenigen Jahrzehnten vermutlich mehr wiegen, als die geschätzten 10 bis 100 Billiarden Ameisen dieses Planeten.
1886 schrieb der österreichische Heimatdichter Peter Rosegger über den Ameisler:
Zitat"Da kannst du im Walde einem sonderbaren Mann begegnen. Seinem zerfahrenen Gewand nach könnte es ein Bettelmann sein, er trägt auch einen großen Sack auf dem Rücken; aber über diesem Bündel und an all' seinen Gliedern… laufen in aller Hast zahllose Ameisen auf und nieder, hin und her."
Präziser wird das Buch "Das deutsche Land - geografische Charakterbilder aus den Alpen, dem Deutschen Reich und Deutsch-Österreich" von 1892. Hier findet sich eine weitere Stelle über den Homo Ameisler:
Zitat"Der Ameisler ist eine Charakterfigur im Gebirge. Er durchstreift die Wälder, in denen die schwarze Ameise Abfälle von Nadelholz und Pflanzenteilen in solchen Mengen zusammenträgt, dass diese Haufen eine Höhe mitunter von einem Meter erreichen. In ihnen birgt das Tier seine Puppen, die sogenannten Ameiseneier. Diese sucht der Ameisler auf, und seine feine Ausbeute ist in manchen Sommern so beträchtlich, dass die Händler aus Wien sie ihm mit 200 Gulden bezahlen."
Ohne Käfigvögel keine Ameisler
Wann genau der Ameisler die Bühne der Weltgeschichte betrat, ist unklar. Da er die Ameisenpuppen, die fälschlicherweise oft als Eier bezeichnet werden, als Vogelfutter anbot, muss er mit der Mode der Käfigvogelhaltung aufgekommen sein. Es gibt Werke, die über den babylonischen Vogelfang berichten; doch landeten die Vögel damals noch im Kochtopf und nicht im Vogelbauer. Danach taucht der Käfigvogel erst wieder in Beschreibungen und Gemälden der Renaissance auf. 1444 berichtete ein Italiener von einem Besuch in Wien:
Zitat"Der Bürger Häuser sind hoch und geräumig… die Vögel singen in den Stuben."
Und sehr viel später, als Mozart mit seinem Vogelhändler Papageno eine unvergessliche Figur kreierte, muss die Stubenvogelhaltung auf ihrem Höhepunkt gewesen sein:
Zitat"Die Wiener, besonders die Frauenzimmer, sind außerordentliche Liebhaber von Singvögeln… In allen Fenstern hängen schöne Käfige mit Nachtigallen, Kanarienvögeln, Gimpeln, Amseln, Lerchen und anderen Singvögeln", wie ein Zeitgenosse Mozarts schreibt.
Die Familie Mozart selbst besaß Kanarienvögel, Meisen, Rotkehlchen und Grasmücken. Und ja, in einer Rechnung aus dem Hause Mozart tauchen auch die Ameisenpuppen auf. Vor allem die Nachtigallen liebten diese eiweißhaltige Waldnahrung. Das Phänomen der häuslichen Singvögel war aber nicht nur in Österreich anzutreffen, sondern europaweit. Wenn man nur eine Facette dieses Zeitvertreibs beleuchtet, wird schnell klar, wie allumfassend dieses Hobby gewesen sein muss. Das englische Traktat "The Bird Fancyer's -Delight" von 1714, das in ganz Europa erhältlich war, beschreibt zum Beispiel Melodien für Vögel, darunter ein Marsch aus Händels "Rinaldo", für den Dompfaff. Und wer seinen Vogel trällern lassen wollte, fütterte ihn besser mit gesunder Nahrung.
Besserer Verdienst als für einen Maurer
Es gab verschiedene Methoden, an dieses begehrte Futter zu gelangen. Zu Anfang musste der Ameisenhügel geöffnet werden: Da die Eier relativ weit oben liegen, um von der Sonne warm gehalten zu werden, musste der Ameisler erst einmal eine ganze Schicht Ameisenhügel absieben. Im Sieb blieben die groben Stücke wie Zweige, Borke und Blätter hängen. Ameisen, Puppen und Kleinteile fielen hindurch auf ein Tuch, das der Sammler darunter ausgebreitet hatte. Die Ränder des Tuches band er hoch, damit die durchgesiebten Ameisen nicht hinausklettern konnten, in die Ecken legte er Reisig. Dort, gut versteckt, brachten die Ameisen alsbald ihre "Eier" in Sicherheit. Während sie geschäftig umhereilten, sammelte der Ameisler alles andere ab, was auf dem Tuch gelandet war, und begann, die Ameisen mit Hilfe eines rauen Lappens zu entfernen. Schließlich nahm er die Kiefernzweige hoch, und was darunter zum Vorschein kam, waren die kleinen Puppen.
Für faulere Ameisler gab es noch andere Methoden. Nach dem Aussieben der Beute aus dem Hügel gruben diese Ameisler einen kreisförmigen Graben und füllten diesen mit Wasser. In der Mitte der dadurch entstandenen Insel hoben sie ein Loch aus, das mit Reisig gefüllt wurde. Auch bei dieser Methode brachten die Ameisen ihre Puppen dorthinein in Sicherheit, und der Ameisler musste es nur noch entleeren. War er noch fauler, legte er in das Loch seinen Hut und sparte sich das Zusammenfegen der Puppen.
Die Puppen wurden im Sack auf dem Rücken nach Hause getragen und dort in einem Dörrhaus getrocknet, um sie haltbar zu machen. Zweimal im Jahr traf man sich mit dem Vogelfutterhändler aus Wien, der extra angereist kam. Ein Ameisler verdiente in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts besser als ein Maurer. Pro Tag konnte er um die fünf Kilogramm Eier sammeln. Rund vierzig Jahre später gaben Ameisler an, sich von dem verkauften Ertrag eines Sommers einen Fernseher leisten zu können. Bis hinein in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hielten sich Familien in bestimmten österreichischen Regionen den Sommer frei, um sich mit Ameisenpuppen ein üppiges Taschengeld zu verdienen, auch wenn von den meisten Forstbehörden das Ameislern verboten oder zumindest eingeschränkt worden war.
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Zitat"Er: `Geh', sag mir, Mirzl, weg'n was sich die Leut so spassen
und allweil die Amastrager hoaßen?'
Sie: 'Na, weil wir uns halt Tag und Nacht plag'n
und unsere Sachen am Buckel umatrag'n.'"
Gegen die Ameisenbisse, die nicht ausblieben, gab es altbewährte Hausmittelchen. Wenn man beispielsweise die Hände mit Holundersaft einrieb, wehrte das die Ameisen ab. Da die Tierchen den Geruch aber als so penetrant empfanden, verließen sie ihren Hügel und bauten sich einen neuen. Den musste der Ameisler erst einmal wiederfinden, um ihn ernten zu können. Darum verzichteten viele auf dieses Hausrezept und ließen sich beißen. Vielleicht litten sie daher weniger an Rheuma. Dem Ameisengift wird Linderung bei diesem Leiden nachgesagt. Auch andere Krankheitssymptome konnten mithilfe der destillierten Waldameise behoben werden. Ein Medizinbuch von 1908 rät, Ameisen in Spiritus eingelegt als Aphrodisiakum anzuwenden: "Ameisengeist macht die feigen Krieger im Venuskampf beherzt."
Wer sagt, größer sei besser?
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Michaela Vieser "Von Kaffeeriechern, Abtrittanbietern und Fischbeinreissern ", illustriert von Irmela Schautz; erschienen im C. Bertelsmann Verlag."